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Abschliessende Bemerkungen zur UN-Behindertenrechtskonvention und UN-Kinderrechtskonvention

Behindertenrechte

 
Integras setzt sich ein für ausserfamiliär untergebrachte und/oder sonderpädagogisch geförderte Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene. Unserer fachlichen Arbeit liegen die Konvention über die Rechte des Kindes (KRK) und die Behindertenrechtskonvention (BRK) zugrunde, wobei die KRK alle Kinder betrifft und die BRK spezifisch auf Kinder mit Behinderungen eingeht.

Im Oktober 2021 wurden die «Abschliessenden Bemerkungen» zur Kinderrechtskonvention und im März 2022 jene zur Behindertenrechtskonvention von den jeweiligen UN-Ausschüssen veröffentlicht. Diese beurteilen jeweils den Stand der Umsetzung beider Konventionen in den Mitgliedstaaten, so auch in der Schweiz. Wir möchten hier die aus unserer Sicht wichtigsten Aspekte für beide Konventionen hervorheben:

Abschliessende Bemerkungen des UN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen zum Erstbericht der Schweiz

Die Schweiz wird aufgefordert, ihre Rechtsvorschriften und politischen Rahmen mit der BRK zu harmonisieren sowie eine Gesamtstrategie zur Umsetzung der UN-BRK in allen Lebensbereichen zu verabschieden. Ebenso sollen abwertende Begriffe wie «Invalidität» und «Hilflosigkeit» in der Gesetzgebung und Politik, der Bundesverfassung und Invalidenversicherung gestrichen und durch würdevolle Begriffe ersetzt werden. Integras begrüsst diese übergeordneten Bestrebungen sehr, da sie der Gestaltung einer inklusiven Gesellschaft entgegenkommen. Dabei ist insbesondere wichtig, wie wir Menschen und ihre Lebensumstände mit Begriffen umschreiben. Warum? «Nomen est omen[1]» bringt treffend zum Ausdruck, in welcher Art und Weise wir Begriffe und ihre Bedeutungen wahrnehmen und unweigerlich mit Inhalten füllen. Wollen wir eine inklusive Gesellschaft, dann benötigen wir dazu entsprechende Begriffe. Ergänzt mit dem Aphorismus «Sprache schafft Wirklichkeit[2]» wird umso deutlicher, wie Wörter und Begriffe unsere Realität beeinflussen und damit auch die Art und Weise, wie wir darüber denken und auf welche Handlungsmuster wir entsprechend zurückgreifen. Ebenso anerkennt der UN-Ausschuss die Wichtigkeit der zivilgesellschaftlichen Organisationen, die sich für die Förderung und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen einsetzen, und fordert die Schweiz auf sicherzustellen, dass für sie angemessene finanzielle und andere notwendige Ressourcen zur Verfügung stehen.

Bezüglich Kinder mit Behinderungen sind die Empfehlung zur Einrichtung einer Ombudsstelle für Kinderrechte, von Mechanismen, welche die Partizipation von Kindern in allen sie betreffenden Angelegenheiten gewährleisten, sowie die Stärkung des Konzepts des Kindeswohls hervorzuheben. Hier zeigt sich die Verschränkung und gegenseitige Stärkung der Behindertenrechts- und Kinderrechtskonvention, was zu begrüssen ist.

Betreffend Freiheit und Sicherheit der Person (Art. 14) wird die Unterbringung von Kindern in Heimen durch Kindesschutzbehörden und ihre Unterbringung in psychiatrischen Einrichtungen durch Erwachsenenschutzbestimmungen stark kritisiert und empfohlen, dies zu verhindern.

Um die Freiheit der Meinungsäußerung und Meinungsfreiheit sowie den Zugang zu Informationen (Art. 21) zu gewährleisten, wird der Schweiz empfohlen, die Gebärdensprache als Amtssprache anzuerkennen und allgemein ausreichende Kommunikationsmittel umfassend zur Verfügung zu stellen.

Zur Achtung der Wohnung und der Familie (Art. 23) sollen Heimunterbringungen von Kindern mit Behinderungen verhindert werden. Stattdessen sollen Familien dahingehend unterstützt werden, dass sie ihr Familienleben mit genügend Unterstützung gestalten können. Bei Eltern mit Behinderungen soll sichergestellt werden, dass eine ausserfamiliäre Unterbringung nicht aufgrund der Behinderung erfolgt und wenn notwendig nur innerhalb der Verwandtschaft oder in einer Pflegefamilie angeboten wird. Ob sich letztere Forderung in jedem Fall mit dem übergeordneten Kindeswohl vereinbaren lässt, wäre aus Sicht von Integras überprüfenswert.

In Bezug auf die Bildung (Art. 24) wird der Schweiz die Einführung eines verfassungsmässigen Rechts auf integrative Bildung und Entwicklung einer umfassenden Strategie für die Umsetzung einer qualitativ hochstehenden, integrativen Bildung für alle Kinder mit Behinderungen empfohlen. Ausserdem ist sicherzustellen, dass die Anwendung des Sonderpädagogik-Konkordats und der kantonalen Politiken nicht dazu führt, dass Kinder mit Behinderungen in die Sonderschule abgeschoben werden, und dass ihr Recht auf integrative Bildung gewahrt wird. Integras verweist in diesem Zusammenhang auf die Standards für eine inklusive Schule.

Immer noch gibt es viel zu wenig und aussagekräftige Daten über die Situation von Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen. Auch hier wird der Schweiz empfohlen, dies zu verbessern sowie Menschen mit Behinderungen bei Forschungen integrativ miteinzubeziehen.

Abschliessende Bemerkungen des UN-Kinderrechtsausschusses zum kombinierten fünften und sechsten periodischen Bericht der Schweiz

Zu den wichtigsten Problembereichen, in denen dringend Massnahmen ergriffen werden müssen, zählen: Datenerhebung (Ziff. 12), Nichtdiskriminierung (Ziff. 18), körperliche Züchtigung (Ziff. 27), Kinder mit Behinderungen (Ziff. 34), asylsuchende Kinder, Flüchtlings- und Migrantenkinder (Ziff. 43) und Verwaltung der Kinderjustiz (Ziff. 46).

Auch im Bereich der Kinderrechte empfiehlt der Ausschuss die Entwicklung und Verabschiedung einer umfassenden Kinderpolitik auf Bundesebene inklusive einer Strategie für ihre Anwendung auf kantonaler Ebene. Dabei ist ein besonderer Schwerpunkt auf Gruppen von Kindern in gefährdeten Situationen zu legen, darunter Kinder in ausserfamiliärer Betreuung, Kinder mit Behinderungen, asylsuchende Kinder, Flüchtlings- und Migrantenkinder und Kinder ohne regulären Aufenthaltsstatus. Zur Koordinierung wird der Schweiz die Einrichtung eines Organs für Kinderrechte auf Bundesebene mit einem klaren Mandat und ausreichenden Befugnissen zur Koordinierung und Umsetzung aller Aktivitäten empfohlen. Dieses Organ soll mit den erforderlichen personellen, technischen und finanziellen Ressourcen ausgestattet werden und die Beteiligung von Kindern und der Zivilgesellschaft einschliessen. Integras begrüsst diese übergeordneten Empfehlungen sehr, weil die Sicherstellung von statistischen Daten zu ausserfamiliär untergebrachten Kindern und eine schweizweit qualitativ gleichwertige Unterbringung nur durch Vorgaben auf Bundesebene zu realisieren sind. Wir setzen uns dafür ein, dass alle Kinder schweizweit eine gleiche Qualität ihrer Unterbringung erfahren – was aktuell, mit Blick auf die unterschiedlichen kantonalen Rechtsgrundlagen, nicht gegeben ist.

Mit entsprechender Dringlichkeit fordert der UN-Ausschuss die Schweiz dazu auf, zügig ein integriertes, umfassendes und standardisiertes Datenerhebungs- und Verwaltungssystem zu schaffen, welches insbesondere (und unter anderem) die Situation von Kindern in benachteiligten Situationen, einschließlich Kinder in ausserfamiliärer Unterbringung und Kinder mit Behinderungen, aufzeigt. Darauf hat der Bundesrat inzwischen reagiert und am 23. Februar 2022 das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) beauftragt, zusammen mit dem Eidgenössischen Departement des Innern (EDI) und den betroffenen interkantonalen Konferenzen eine nationale Statistik über die ausserfamiliäre Unterbringung von Kindern zu schaffen. Integras begrüsst diesen längst überfälligen Schritt sehr. Ohne nationale Statistik machen wir die Anliegen und Lebenslagen von Kindern in benachteiligten Situationen unsichtbar – und damit sind auch diese Kinder unsichtbar. Maria Montessori sagte: «Was Kinder betrifft, betrifft die Menschheit! » Wir können keine gesunde Gesellschaft aufbauen, ohne uns genügend um unsere Kinder zu kümmern. Aktuell interessiert uns die Entwicklung der Börsenkurse (sie werden uns täglich vor der Tagesschau präsentiert) offensichtlich viel mehr als Aussagen zu den Lebenslagen von Kindern in der Schweiz (wie wäre es mit einem täglichen Bericht zu Kindern in benachteiligten Situationen oder Armut vor der Tagesschau?). Hier fordert Integras ein gesellschaftliches Umdenken!

Ebenso dringend ist die zügige Einsetzung einer Ombudsstelle für Kinderrechte, mit dem Mandat, die Fortschritte auf Bundes- und Kantonsebene bei der Verwirklichung der Kinderrechte gemäss der Konvention regelmässig zu überwachen und zu evaluieren sowie Beschwerden von Kindern entgegenzunehmen, zu untersuchen und in einer kinderfreundlichen Art und Weise zu behandeln. Der aktuelle Stand dazu: Am 24. September 2020 überwies der Nationalrat als Zweitrat die Motion 19.3633 zur Gründung einer Ombudsstelle für Kinderrechte. Mit der Motion wird der Bundesrat beauftragt, die Lücken im heutigen Angebot in Bezug auf die Förderung und den Schutz der Kinderrechte zu schliessen. Die Verwaltung ist daran, dies umzusetzen.

Weiterhin wird der Schweiz empfohlen, alle Fachkräfte, die mit und für Kinder arbeiten, systematisch zu den Rechten des Kindes zu schulen und sicherzustellen, dass alle Formen der Diskriminierung verboten sind.

Identisch mit den Empfehlungen des UN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen empfiehlt auch der UN-Kinderrechtsausschuss eine Stärkung des Konzepts und die konsequente Anwendung des Grundsatzes des Kindeswohls sowie eine Stärkung der Partizipation von Kindern in allen Belangen, die sie betreffen.

Nachdrücklich wird die Schweiz aufgefordert, ein ausdrückliches und vorrangiges gesetzliches Verbot der körperlichen Züchtigung in allen Bereichen, einschliesslich zu Hause, in Schulen, Kinderbetreuungseinrichtungen, alternativen Betreuungseinrichtungen und Strafvollzugsanstalten umzusetzen. Aktuell hat der Nationalrat der Motion 19.4632 «Gewaltfreie Erziehung im ZGB verankern» in der Herbstsession 2021 zugestimmt. Nun braucht es auch noch das Ja des Ständerats.

Betreffend die ausserfamiliäre Betreuung von Kindern empfiehlt der Ausschuss wiederholt die Verabschiedung nationaler Standards zur Sicherung von deren Qualität, auch für Kinder, die bei Pflegefamilien und in Bundesasylzentren leben, sowie die Förderung ihrer Anwendung in allen Kantonen. In seinen weiteren Empfehlungen stützt sich der Ausschuss auf die UN-Resolution 64/142 (Guidelines for the alternative care of children).

In Bezug auf Kinder mit Behinderungen bekräftigt der Kinderrechtsausschuss die Empfehlungen des BRK- Ausschusses, beispielsweise mit der Stärkung des Rechts auf inklusiven Unterricht in Regelschulen für alle Kinder mit Behinderungen, der Forderung eines gesetzlichen Verbots der Praxis des «Verpackens» von Kindern oder der Durchführung von Sensibilisierungskampagnen, um die Stigmatisierung und Diskriminierung von Kindern mit Behinderungen zu bekämpfen und ein positives Bild dieser Kinder als Träger von Rechten zu fördern.

Im Bereich der Strafmündigkeit von Kindern wird der Schweiz empfohlen, im Einklang mit dem Übereinkommen und internationalen Standards das Strafmündigkeitsalter auf mindestens 14 Jahre anzuheben.

 

[1] Bedeutung: Der Name ist ein Zeichen. Die Redensart stammt ursprünglich vom römischen Komödiendichter Plautus (um 250-184 v. Ch.); siehe auch https://de.wiktionary.org/wiki/nomen_est_omen

[2] Ludwig Wittgenstein, Paul Watzlawick