Sprache auswählen

«Werkstätten der Professionalisierung? Verbände und die Koordination des Sozialwesens in der Schweiz»

Exklusivbericht zur Studien-Ausgangslage von Gisela Hauss
 

Massnahmen von Zwang und Gewalt waren in der unübersichtlichen Fürsorgelandschaft der Schweiz bis in die 1980er Jahre hinein kaum einer Aufsicht unterstellt. Aus dem Blick gerät dabei oft, dass Fachleute schon früh die Willkür kritisierten und Richtlinien einforderten. Dies wird im demnächst erscheinenden Buch «Praxis der Sozialstaatlichkeit» vorgestellt. Als Exklusivbericht finden Sie hier die Ausgangslage der Studie Werkstätten der Professionalisierung? Verbände und die Koordination des Sozialwesens in der Schweiz (nfp76.ch).

Studie

«Praxis der Sozialstaatlichkeit»: Das Buch zu den Anfängen einer gesamtschweizerischen Koordination erscheint demnächst

Nationale Verbände im Sozialwesen der Schweiz sind in Bewegung und Verbandslandschaften konstellieren sich immer wieder neu. In diesem dynamischen Gefüge geht es heute und ging es bereits im 20. Jahrhundert um Koordination und Vernetzung. Ziel ist es, die Kräfte zu bündeln für eine gemeinsame Vertretung auf verschiedenen politischen Ebenen und zusammenzufinden, um Fachlichkeit voranzubringen.   

Vorschau

Ausgangspunkt – ein vielgestaltiges, weitgehend unterreglementiertes Sozialwesen     

In den Interviews, die wir im Forschungsprojekt mit Verantwortlichen der heutigen Branchen- und Fachverbände führten, wurde eine «Tendenz zur Verzettelung» in der Verbandslandschaft zum Thema, was die Koordination erschwere. Die Landschaft wurde als «Flickwerk» eingeschätzt, eine Befragte erzählt: «Wir haben wahnsinnig viele Verbände, die sich um wahnsinnig viele Themen tummeln.» In den letzten Jahren seien deshalb «sehr viele Allianzen und Netzwerke» zu spezifischen Themen geschaffen worden, um dieser «Verzettelung» entgegenzuwirken. Die Geschäftsleiterin eines weiteren Verbandes weist auf die fehlende gesetzliche Regelung auf nationaler Ebene in der Kinder- und Jugendhilfe hin und fragt sich, warum das so sei. Gerade «für die so vulnerablen Gruppen» in ihrem Bereich sei es unverständlich, dass es zwar eine IV gebe, doch keine gesamtschweizerischen gesetzlichen Regelungen für stationäre Kinder- und Jugendeinrichtungen. Ein Anliegen des hier zur Diskussion stehendenden Buches ist es, ein kritisches Verständnis zu fördern für diese spezifische Ausformung des Sozialwesens.     

Vor 100 Jahren aufgegleist – die Koordination in sozialstaatlichen Strukturen 

Der Band eröffnet einen Blick auf das 20. Jahrhundert, von den 1930er bis Ende der 1990er Jahre, und weist damit die Bestrebungen zur Koordination in einer «verzettelten» sozialen Landschaft als eine Konstellation der longue durée aus.  

Bereits vor nahezu 100 Jahren versuchte die Landeskonferenz für soziale Arbeit (LAKO) auf zivilgesellschaftlicher Ebene in der Heterogenität des nationalen Sozialwesens eine gewisse Ordnung, Planbarkeit und Systematisierung zu erreichen. Das heute wieder hoch aktuelle Grundthema war damit angestimmt: Die LAKO kritisierte die Fragmentierung des Sozialwesens und strebte nach einer gesamtschweizerischen Harmonisierung, ohne dabei das Gewachsene im privaten Sektor verlieren zu wollen.  

Die Landeskonferenz für soziale Arbeit – eine zentrale Plattform der Kooperation  

Mit dem Anliegen der Kooperation brachte die LAKO gesamtschweizerisch rund sechzig private Sozialwerke, private Dach- und Fachverbände sowie eidgenössische Ämter und Zusammenschlüsse kantonaler Amtsstellen in Kontakt, suchte Strategien der Kooperation und arbeitete übergreifende Richtlinien aus, sei es für das Heimwesen, das Pflegekinderwesen oder die Adoption. Aufgrund dieser regen und das Sozialwesen profilierenden Tätigkeiten wurde die LAKO international wahrgenommen und zur wichtigen Ansprechpartnerin in Bezug auf eine schweizerische Vertretung an internationalen Tagungen, in UNO-Programmen und in der international geführten Diskussion um die Bedeutung der sozialen Grundrechte der Menschenrechtsdeklaration. Ende 1999 löste sich die LAKO auf. Aspekte ihrer Tätigkeit werden heute von verschiedenen Verbänden und interkantonalen Konferenzen übernommen.  

«Zusammen für verschiedene Themen am gleichen Strick ziehen» – ein umstrittenes Anliegen in Geschichte und Gegenwart  

Unsere Interviews mit denen, die in den 1960er und 1970er Jahren mit der Landeskonferenz verbunden waren sowie mit jenen, die heute im Verbandswesen arbeiten führten zu den gleichen Schlussfolgerungen. Es ging und es geht darum, «am gleichen Strick zu ziehen» auch wenn die Themen unterschiedlich sind. Der hier diskutierte Band «Praxis der Sozialstaatlichkeit» verfolgt dieses Thema bis in die 1930er Jahre zurück. Auf diesem Weg gewinnt das Sozialwesen des 20. Jahrhunderts Kontur, verschiedene Schauplätze werden sichtbar, so etwa die Heimerziehung und die dort angebotenen Berufslehren, für welche die LAKO jeweils Richtlinien herausgab. Interessant ist auch die Ausbildung der Heimerzieherinnen, die sich von derjenigen in Sozialer Arbeit zunächst stark unterschied. In den Tätigkeiten der LAKO werden Pragmatik, Verhandlungsgeschick, Lobbying und die damit verbundene staatliche Subventionspolitik, aber auch Widersprüche und gegenseitige Blockaden sichtbar. Das Verständnis dafür, dass es der LAKO in ihrer Gründungsphase auch darum ging, in einer krisengeschüttelten Nachkriegsgesellschaft den Zusammenhalt zu stärken, kann Vereine und Verbände motivieren, dem Auseinanderdriften der Gesellschaft etwas entgegenzusetzen. Auf den Punkt gebracht: Die Arbeit im zivilgesellschaftlich organisierten Bereich gewinnt mit dem vorliegenden Band ein kritisches Potential und historische Tiefe.   

Neuerscheinungen 2022 und 2023
zum Weiterlesen  

  • Hauss, Gisela/ Bossert Markus/ Heiniger Kevin (2023, in print) «Planvoller, systematischer und rationeller. Segmentierte Professionalisierungsprozesse in den 1950er Jahren. In: Barras, Vincent et al. (Hg.) Fürsorge und Zwang. Strukturen, Akteure und Verantwortlichkeiten (Arbeitstitel). Basel, Berlin: Schwabe Verlag.  
  • Hauss Gisela/ Bossert Markus (2023, in print) Innovation als Wiederholung, Überraschung und Kontinuität. Eine historische Perspektive. In: Hüttemann, Matthias/ Parpan-Blaser, Anne (Hg.) Innovation in der Sozialen Arbeit. Stuttgart: Kohlhammer Verlag.  
  • Hauss, Gisela/ Heiniger, Kevin (2023, in print). Öffentliche und fachliche Kontrolle im Pflegekinderwesen? Die Richtlinien der Landeskonferenz für soziale Arbeit als Antwort auf die Skandale der 1940er Jahre. In: Rietmann, Tanja/ Amacker, Michèle (Hg.) Pflegefamilien im Spannungsfeld zwischen «Öffentlichkeit» und «Privatheit» aus historischer und gegenwärtiger Perspektive (Kanton Bern). Zürich: Chronos.   
  • Hauss, Gisela/ Heiniger, Kevin/ Bossert Markus (2022) Geld, Standards und segmentierte Professionalisierungsprozesse. In: Bulletin NFP 76, Nr. 1, S. 17–20, Weblink: NFP76-Bulletin-1_d.pdf 
  • Heiniger, Kevin (2022). Eine Anstalt für «Schwersterziehbare». Ambivalente Diskurse um Strafe, Erziehung und politische Zuständigkeiten (1940–1990). In: Gaida, Oliver et al. (Hg.) Zwang zur Erziehung? Deviante Jugendliche als institutionalisierte Aufgabe im 20. Jahrhundert. Münster: LIT Verlag, S. 287–308.

 

luginbuehl monika

Prof. Dr. Gisela Hauss, Institut Integration und Partizipation, Hochschule für Soziale Arbeit FHNW