#ungefiltert – Von einem der auszog erwachsen zu werden oder wie das Friedheim zu einem ganzen Dorf wurde
Als unser Sohn M. mit 10 Jahren im Friedheim gestartet ist, war er ein unglückliches Kind, das schon viele schlechte Erfahrungen mit der Welt der Erwachsenen gemacht und dabei viel Ablehnung erfahren hat.
Die Schule, die er damals besuchte – angeblich spezialisiert auf Kinder mit besonderen Herausforderungen – isolierte ihn von Anfang an. Die letzten Wochen verbrachte er allein in einem Klassenzimmer, ausgeschlossen vom Sport, Werken und von anderen Klassenaktivitäten. Für die Schule ein blosser Querulant, der nicht will. Dass er nicht konnte, wollte niemand sehen.
Zu Hause reagierte er zunehmend mit aggressivem Verhalten, so, dass wir keinen Rat mehr wussten und praktisch auf «dem Zahnfleisch» gingen.
M. war immer schon ein Kind mit besonderen Herausforderungen, das uns vom ersten Tag seines Lebens forderte und viel Kraft kostete. Im Mai 2016 war diese Kraft erschöpft und wir – mein Mann und ich, aber auch unser grosser Sohn – baten, gemeinsam mit Therapeuten und Therapeutinnen und Erziehungsberatenden, die Schulgemeinde um einen Platz in einem Schulheim.
So konnte M. ihm Mai 2016 im Friedheim schnuppern und wurde dort direkt mit offenen Armen und Herzen willkommen geheissen. Da er im Friedheim seiner Fussballspiel-Leidenschaft nachgehen konnte, fiel die Entscheidung schnell. So wurde er im Mai aufgenommen und konnte direkt einen wichtigen Beitrag im Fussballverein leisten.
Die Therapeutin fragte mich und meinen Mann damals, was unser Ziel mit der Platzierung in dieser Institution sei, bzw. was wir uns davon versprechen oder was wir uns erhoffen. Ich weiss noch sehr gut, dass wir antworteten: «Einfach zur Ruhe kommen. Nicht wöchentlich Schulanrufe erhalten, in denen man uns und dem Kind vorwirft, dieses Verhalten absichtlich zu zeigen.»
Natürlich wussten wir, dass wir auch weiterhin zur Verfügung stehen und uns eng mit der Schule und der Wohngruppe abstimmen mussten, schliesslich haben wir dies auch in den Jahren vorher immer angeboten. Genutzt wurde es erstmalig vom Friedheim. Wir waren da, wenn M. sich weigerte, mit den Grossen und Älteren das «wilde» Nachtleben (inklusive Zigarettenkonsum) in der damals noch vorhandenen Scheune auszuprobieren. Wir waren da, als er sich einmal einem anderen Schüler anschloss, um die weite Freiheit des Kantons Zürich an einem Nachmittag zu erleben und zu testen. Aber wir waren auch beruhigt, wenn uns Pädagogen und Pädagoginnen, Sozialarbeiter*innen signalisierten: «Es ist okay. Kann passieren. Wir sind da für ihn.»
Wir standen auch voll hinter Entscheiden, wenn zum Beispiel zugunsten der Lungenliga (nach dem Zigarettengenuss) gemeinsam eine Stunde im Garten gearbeitet wurde oder wir ihn nach dem Genuss eines Kurvenganges zwar abholten, dann aber umgehend ins Friedheim zurückbrachten und nicht, wie das bei seinem Kollegen der Fall war, nach Hause mitnahmen. Wir signalisierten unserm Sohn, dass wir die Massnahmen mit den Pädagogen und Pädagoginnen besprechen und diese unterstützen. Zudem zeigten wir ihm auf, dass wir bereit waren mit ihm zu diskutieren und allfällige, empfundene Ungerechtigkeiten zusammen ansehen.
Bei meinem ersten Besuch habe ich damals den pädagogischer Leiter gefragt, woher er die Ruhe und die positive Einstellung nehme. Er sagte, dass jedes dieser Kinder seine Stärken und positiven Seiten habe und sie alle einfach ganz viel können. Heute weiss ich, was er meinte. Wir konnten dort in den letzten Jahren viele Kinder zu jungen und positiven Menschen heranwachsen sehen. Wir konnten sehen, wie aus einem unglücklichen und aggressiven Kind ein humorvoller, kommunikativer und neugieriger junger Mann geworden ist, dem es heute – nach all den Kämpfen mit und gegen Lehrer*innen und Betreuer*innen – schwerfällt, das Friedheim im Sommer 2021 verlassen zu müssen.
Am Wochenende hat er mich gefragt, ob er nicht ein Jahr wiederholen könnte.
Auch uns Eltern fällt es schwer. Wir verlieren unsere ersten Ansprechpartner und unsere Unterstützung, wenn es um die Belange unseres jüngsten Sohnes geht und wissen, dass wir bald mit vielen Herausforderungen allein sein werden.
Denn auch wenn M. sich toll entwickelt hat, bleibt er ein Mensch mit starker Persönlichkeit, der für sein Umfeld eine Herausforderung ist. Dass er lernt, damit umzugehen und auch einmal einen Schritt zurück machen kann, wurde erst durch die ständige und direkte Präsenz der Lehrer*innen und Betreuer*innen möglich. Weiter war ihr Signal an uns Eltern, dass wir nichts falsch gemacht haben, sehr entlastend für uns.
Wir möchten uns herzlich für die anstrengende aber auch oft kurzweilige Zeit auf Veranstaltungen und Festen, für die grosse Unterstützung für uns und unseren Sohn, den Zuspruch und das Mutmachen bedanken. Auch wir – die Eltern – und natürlich M. werden das Friedheim und die Menschen dort vermissen.
Mutter von M.