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Die «Wiedergutmachung» und die Beweislast

Die Wiedergutmachungsinitiative und der indirekte Gegenvorschlag des Bundes werden in der Sondersession im April 2016 im Nationalrat diskutiert. Integras vertritt in wichtigen Punkten der Vorlage eine abweichende Position: die Unterscheidung in Opfer und Betroffene sowie den Modus der Festlegung und Auszahlung des Solidaritätsbeitrages.

Um einen Beitrag aus dem Solidaritätsfonds zu erhalten, muss die gesuchstellende Person gemäss dem jetzigen Gesetzesentwurf (AFZFG) im Antrag glaubhaft machen, dass sie während der Dauer der fürsorgerischen Zwangsmassnahme oder Fremdplatzierung (FSZM) ein Opfer nach der Definition dieses Gesetzes war, und dies mit Akten und Unterlagen belegen. Die Opferdefinition ist dabei sehr eng gehalten (vgl. Art. 2, d des Entwurfs AFZFG). Integras lehnt eine solche inhaltliche Beweisführung für die «Verletzung der Unversehrtheit der Opfer» ab. Wir fordern, dass es genügen sollte, wenn Opfer von FSZM im Gesuch für eine Entschädigung aus dem Solidaritätsfonds glaubhaft machen, dass sie von FSZM oder Fremdplatzierung betroffen waren.

Unserer Argumente:

  • In vielen Fällen ist es praktisch nicht lösbar, dass die Betroffenen durch Akten und Unterlagen «glaubhaft machen», dass sie ein Opfer gemäss der Definition dieses Gesetzes sind: Misshandlungen physischer, psychischer oder sexueller Art sind selten aktenkundig und es ist kaum möglich, eine «gezielte Behinderung der persönlichen Entwicklung und Entfaltung, oder soziale Stigmatisierung» - wie dies das Gesetz verlangt - durch Akten glaubhaft zu machen.
  • Eine Traumatisierung beweisen zu müssen ist verletzend und kann eine erneute Traumatisierung auslösen. Es gibt Opfer/Betroffene, die nicht gerne oder noch gar nie mit jemandem über das Erlebte sprechen konnten. Das «glaubhaft machen» der Opfereigenschaft untergräbt so die Wirkung der «Wiedergutmachung».
  • Viele damalige Praktien der Behörden waren per se falsch, auch ohne, dass die im Gesetz genannten Kriterien für die Opfereigenschaft vorliegen. Zum Beispiel wurden Fremdplatzierungen oder fürsorgerische Zwangsmassnahmen aus moralischen oder wirtschaftlichen Gründen gemacht und die betroffenen Menschen hatten keine Möglichkeiten sich zu wehren (Einsprachen, Rekurse). Die Unterscheidung in Opfer und Betroffene ignoriert diese Tatsache.
  • Zudem beurteilen wir die Beweislastpflicht auf Seiten der Gesuchstellenden grundsätzlich als problematisch, weil die Opfer kein Selbstverschulden tragen. Die Beweislast sollte bei der zuständigen Behörde liegen.
  • Der Gesetzesentwurf sieht momentan vor, die Auszahlung des Solidaritätsbeitrages in zwei Tranchen zu machen, damit die Gesamtkosten die vorgesehenen 300 Mio. CHF nicht übersteigen. Dies ist wie ein halbherziges Bekenntnis zur Wiedergutmachung: Wir plädieren hier für ein klares Bekenntnis zur Anerkennung des Unrechts, indem ein Betrag pro Opfer festgelegt wird, und dieser ausbezahlt wird, sobald der Anspruch geklärt ist.
Die Vorberatung in der Rechtskommission des Nationalrats

Integras hat der vorberatenden Rechtskommission seine Argumente in einer gemeinsamen Stellungnahme mit Amnesty International Schweiz (AI) zugestellt.

Die Rechtskommission des Nationalrats hat das Geschäft im Januar und Februar vorbehandelt. Sie lehnt die Wiedergutmachungs-Initiative ab, aber hat sich mit 13 zu 9 Stimmen bei 1 Enthaltung für den indirekten Gegenvorschlag des Bundesrates ausgesprochen. Auch im indirekten Gegenvorschlag ist vorgesehen, dass die Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 eine finanzielle Entschädigung erhalten können. Die Kommission ist mit 13 zu 9 Stimmen bei 1 Enthaltung dem Antrag des Bundesrats gefolgt, dafür einen Zahlungsrahmen im Umfang von 300 Millionen Franken zu bewilligen. Die exakte Höhe des individuell gesprochenen Solidaritätsbeitrags pro Person soll von der Anzahl der bewilligten Gesuche abhängig sein und auf maximal 25‘000 Franken pro Opfer begrenzt werden. Eine Minderheit der Kommission zweifelt generell an der Wirksamkeit von finanziellen Leistungen im Rahmen einer Wiedergutmachung und verweist darauf, dass der Bund mit dem Bundesgesetz über die Rehabilitierung administrativ versorgter Menschen vom 21. März 2014 das geschehene Unrecht bereits anerkannt habe.

Der Nationalrat behandelt das Geschäft in der Sondersession vom 25. bis 28. April als Erstrat und wird sich mit all diesen Fragen auseinandersetzen. Integras wird den Räten im Vorfeld seine Position darlegen.

Laura Valero

Unterlagen zum Parlamentsgeschäft

Stellungnahme von Integras z. H. der Rechtkommission des Nationalrats