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Selbstorganisiertes Lernen – Lernende sind eine heterogene Gruppe und das ist eine Chance

Jede Schülerin und jeder Schüler ist in der Lage, alle Schulfächer zu bewältigen, wenn sie oder er dafür genügend Zeit und geeignete Mittel erhält. 

Die Schule des 21. Jahrhunderts muss neue Wege gehen. Das hierarchische, trichterförmige Schulsystem mit seinen strikt voneinander abgegrenzten Fächern, die nach festen Stundenplänen gelehrt werden, kann in seiner aktuellen Form nicht weiterbestehen. Die lernende Schule ist auf dem Vormarsch. Sie ist geprägt von Herausforderungen wie Inklusion, Digitalisierung und neu aufkommende Lernmethoden. Die Einführung des sogenannten «selbstbestimmten Lernens» stellt eine Antwort auf alle diese Herausforderungen dar. Sie ermöglicht den Lernenden, sich im und durch das Lernen zu entfalten. 
 

selbstorganisiertes lernen 

Der Ansatz der Pädagogik des selbstorganisierten Lernens und des umgedrehten Unterrichts (flipped classroom), die wir hier kurz mit «selbstorganisiertem Lernen» bezeichnen, liegt darin, die Arbeit fluktuierend zu organisieren und dadurch die Zusammenarbeit und auch das aktive, binnendifferenzierte Lernen dem Rhythmus, den Bedürfnissen und der Wahl der Lernenden gemäss zu fördern. Es überträgt die Kontrolle über Organisation, Raum und Zeit den Lernenden und entwickelt so ihre Autonomie.  

Das heisst: Die Lernenden arbeiten einzeln oder in kleinen Gruppen nach ihrer Wahl und ihrem Rhythmus. So werden sie zu Akteur*innen, zu Verantwortlichen ihres eigenen Lernens. Aufgabe der Lehrkräfte ist es, Unterrichtsmaterialien zur Verfügung zu stellen, das erworbene Wissen zu validieren und die Lernenden in ihrer Organisation und Arbeit zu unterstützen. Evaluationen erfolgen progressiv und sind formativ. Die Lehrkräfte weisen auf Probleme hin, validieren richtige Resultate und bieten Hilfe bei bestehenden Lücken, wenn dies von den betroffenen Lernenden gewünscht wird.  

Insbesondere führt die Pädagogik des selbstorganisierten Lernens zu vermehrten Interaktionen zwischen Lernenden und Lehrkräften und zu einer anderen, das Verantwortungsgefühl weckenden Haltung. Sie erlaubt, verschiedene pädagogische Ansätze (durchlässig-behavioristisch-konstruktivistisch) zu praktizieren und ermöglicht es abwesenden Lernenden, gleich zu arbeiten wie ihre anwesenden Kolleg*innen. Vor allem aber fördert es einen guten Umgang mit der Heterogenität der Lernenden.  

In einer traditionellen Schulklasse zwingt die Lehrkraft allen das gleiche Tempo auf. Auch die Schnellsten unter den Lernenden müssen diesem folgen, sie langweilen sich entsprechend rasch und klinken sich aus. Paradoxerweise können sie dadurch sogar dazu verleitet werden, die Klasse zu stören. Währenddessen hinken die Lernenden, die mehr Zeit benötigen, hinterher. Der vorgegebene Rhythmus richtet sich an einem hypothetischen, mittelmässigen Schüler aus und somit einem Einheitsmodell, dem nur wenige Kinder entsprechen. 

Auch kann eine Lehrkraft kaum alle Schwachstellen jedes einzelnen Lernenden identifizieren. Durch das ständige Kategorisieren und Schaffen von immer gleich langen Unterrichtseinheiten berauben wir unsere Lernenden der Möglichkeit, Verbindungen herzustellen. Der traditionelle Ansatz geht immer gleich vor: Man nimmt ein Thema, das man während einer Woche oder mehreren Wochen isoliert behandelt, dann folgt ein Test und man geht zum nächsten Kapitel über. Wenig erstaunlich, dass so viele Lernende das Thema sofort nach dem Test wieder vergessen. Dabei existieren Kenntnisse nicht isoliert voneinander: Wissen ist ein Kontinuum und jede Erkenntnis ist mit einer anderen verknüpft.  

Im selbstorganisierten Lernen ermöglichen digitale Mittel differenzierte Lernprozesse. Der Rhythmus passt für alle Lernenden, da jede Schülerin und jeder Schüler sich das eigene Tempo vorgibt. Wer eine Lektion schnell hat verarbeiten können, kann weitergehen und muss sich nicht langweilen. Wer mit einem Thema Schwierigkeiten hat, kann auch mal pausieren oder einen Schritt zurückgehen und das Vorangehende nochmals üben, ohne sich deswegen schämen zu müssen oder die ganze Klasse in Rückstand zu bringen. Die Lehrkraft kann mit einer sinnvoll angewandten, einfachen Videosequenz zusätzliches Wissen vermitteln und so die Klasse in ein Atelier verwandeln, wo Zusammenarbeit wichtiger ist als passives Zuhören.  

Mit der Pädagogik des selbstorganisierten Lernens halten Flexibilität und Anpassung an den Rhythmus der einzelnen Lernenden in der Schule Einzug, zwei der wesentlichsten Merkmale eines aktiven und motivierenden Lernprozesses. Zudem verleiht die beschriebene Arbeitsorganisation der Schule eine Dynamik, die jener der heutigen Realität und Arbeitswelt entspricht.  

Einige Rückmeldungen von Lehrkräften: 

  • (Fast) keine Disziplinprobleme mehr 
  • Deutlich gesteigerte Autonomie und Verantwortungsübernahme der Lernenden 
  • Besseres Verhältnis mit den Lernenden
  • Die schulischen Resultate bleiben konstant (weder besser noch schlechter), bei klar verbesserten transversalen Fähigkeiten 

Die Lernenden äussern sich etwas gespaltener:  

  • Einige schätzen die Autonomie und die übertragene Freiheit: «Ich kann arbeiten, wo ich will und «fast» wann ich will. Und das in meinem eigenen Rhythmus.»
  • Andere wiederum sind verunsichert (zumindest am Anfang): «Mir ist es lieber, wenn man mir sagt, was ich machen soll.»

Sourget Fabrice

Fabrice Sourget 
Leiter Schulkreis Val-de-Ruz