Sprache auswählen

Rückblick Plattform Fremdplatzierung 2020

Wie gelingt uns «Bientraitance», und wie verhindern wir «Maltraitance» in der Kinder- und Jugendhilfe?

Das sind Fragen, welche die Praxis und Forschung Sozialer Arbeit gleichermassen beschäftigen. An der diesjährigen Tagung Plattform Fremdplatzierung hat Integras zusätzlich zu diesem Thema Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene zum Diskurs an die Tagung eingeladen.

Perspektivenwechsel – umkämpfen und Standardisierung?

Beschäftigt man sich mit dem Begriff von «Bientraitance», zeigt sich die Komplexität dieses Begriffs. Nicht nur dass der Begriff nicht einfach auf Deutsch übersetzbar ist, sondern dass er auch nicht einfach als Gegenteil von «Maltraitance» gilt. Auch die Ergebnisse des Mentimeters zeigen, dass der Begriff «Bientraitance» für unsere Tagungsteilnehmer sehr weitläufig ist.

bientraitance

Bild: Was bedeutet «Bientraitance» für Sie?

 

Vor allem lehrt uns die Geschichte in der Schweiz auch, dass «Bientraitance» rückblickend bisweilen als «Maltraitance» bewertet werden kann. So sagt Gisela Hauser: «Bientraitance» ist, so zeigt es die Geschichte, umkämpft, heute könnten wir sagen in Spannungsfelder eingelassen. Sie steht in der Spannung zwischen Konkretisierung und Generalisierung oder, um es anders zu sagen, zwischen Ausdifferenzierung und Standardisierung.

Individuelle Lösungen für die Betroffenen – eine Problematik für die Praxis

Ein Beispiel für diese Standardisierung sind mitunter zuweisende Behörden wie die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde oder Jugendanwaltschaft, welche beide an der Tagung vertreten sind. Die Verfahren sind im Rahmen des Beurteilungs-, Entscheidungs- und Überwachungsprozesses bei Kindern und ihren Familien hoch standardisiert und sollen Professionalität gewährleisten. Dennoch ist es nicht in jedem Fall möglich, dass Kinder und Jugendliche gemäss ihren individuellen Bedürfnissen platziert werden können. Es ist eine Herausforderung für die Praxis, schnelle, individuelle und dennoch professionelle Lösungen zu finden. Die Konsequenz würden oftmals die Kinder und Jugendlichen tragen, da es zu stetigen Umplatzierungen kommt. Eine grosse Problematik ist hierbei, dass es keine vergleichbaren Zahlen gibt, wie oft Kinder und Jugendliche in der Schweiz umplatziert werden. Wenn es dann mit Erreichung des 18. Lebensjahrs keine direkt anschliessende Unterstützungsmassnahmen gibt, sind die Jugendlichen auf sich gestellt. Obwohl die Quality4Childern explizit die Nachsorge thematisiert, ist die Nachsorge in der Schweiz unzureichend geregelt (mehr hierzu der Vortrag von Wanda Suter und Philip Schäpi).

Perspektive der Kinder und Jugendlichen – Anpassung an den Heimalltag anstatt Erwerb von Kompetenzen für ein selbständiges Leben

An dieser Tagung berichten die Kinder und Jugendlichen von mit der Platzierung verbundenen Erfahrungen von Heimatlosigkeit, Vertrauensproblemen gegenüber Erwachsenen, stetigen Beziehungsabbrüchen, Sprachlosigkeit, fehlender Selbstbestimmung und dem anhaltenden Gefühl von Machtlosigkeit. In diesem Spannungsfeld sind genau solche standardisierten Abklärungsverfahren machtvoll und einschüchternd für die Jugendlichen. «Niemand wolle ein Heimkind sein», so eine Jugendliche, aber für manche gebe es keine andere Möglichkeit. Die Sozialpädagog*innen seien dann gefordert, an der Beziehung zu arbeiten, und dazu brauche es Geduld und aufrichtigen Respekt gegenüber den Kindern und Jugendlichen. Im Projekt «Care Leaver erforschen Leaving Care» zeigen sich die eindrücklichen Ergebnisse, wie die Jugendlichen und jungen Erwachsenen das Heim als Ökosystem und die Aussenwelt als ein völlig anderes Ökosystem wahrnehmen. So sei der Alltag im Heim durchstrukturiert, doch mit dem Austritt konfrontiert wird sichtbar, dass eine Selbststrukturierung nicht gelernt wurde. Die Fondation F. L. Borel ist ein positives Beispiel dafür, dass es im pädagogischen Alltag möglich ist, die Perspektive der Kinder bis hin zur strukturelleren Ebene einzubeziehen. So berichten die Kinder dieser Organisation an der Tagung von Selbstwirksamkeitserfahrungen im Umgang mit ihren eigenen Lebensbedingungen und nicht mit der Bewältigung einer Heimerfahrung.