«Die Mitwirkungsrechte für Kinder sind in der Schweiz nicht besonders anerkannt.» Interview mit Prof. Philip D. Jaffé
Prof. Philip Jaffé, Leiter des Interfakultären Zentrums für Kinderrechte in Genf (Centre interfacultaire en droits de l'enfant CIDE) wurde am 29. Juni 2018 in New York als Mitglied des UN-Ausschusses für Kinderrechte gewählt. Die Amtszeit beginnt im Jahr 2019. Im selben Jahr wird das Übereinkommen über die Rechte des Kindes 30 Jahre alt. Wir haben mit Prof. Philip Jaffé ein Interview geführt.
Integras: Prof. Jaffé, was hat Sie als Psychologe dazu motiviert, den Wettlauf um die Nominierung im Kinderrechtsausschuss anzutreten? Ist dies nicht eher eine Sache für Juristen?
Philip Jaffé: Kinderrechte sind jedermanns Sache, um sie wirksamer zu schützen und zu fördern scheint es vernünftig, aus einer interdisziplinären Perspektive zu handeln. So wie wir dies beim Interfakultären Zentrum für Kinderrechte der Universität Genf im Bereich Lehre und Forschung tun. Ich sage oft und gerne, dass Kinder und deren Rechte zu komplex sind, um nur den Juristen vorbehalten zu bleiben, auch wenn letztere unverzichtbar sind. Im Bereich der Menschenrechte ist es unbedingt notwendig, rechtliches Wissen und Denken mit anderen Fachkenntnissen, insbesondere bio-psycho-sozialen und evidenz-basiertem Wissen, zu ergänzen. Und warum sollten Historiker, Philosophen oder Theologen davon ausgeschlossen sein?
Bei meiner Motivation, Mitglied des UN-Ausschusses für Kinderrechte zu werden, handelt es sich um eine Kombination von strategischem Denken, Erfahrung und Leidenschaft! Ein Element meiner Motivation besteht darin, aus dem Grundsatz der Kontinuität Nutzen zu ziehen sowie den helvetischen Sichtweisen und Werten im Bereich der Kinderrechte Gewicht zu verleihen. Die Schweiz und insbesondere Genf blicken in dieser Beziehung auf eine reichhaltige Geschichte zurück und besitzen Modellwert. Dieses Kapital birgt auch strategisch eine Chance, insbesondere dann, wenn wir den 30. Jahrestag seit der Inkraftsetzung der UN-Kinderrechtskonvention feiern werden. Diese Kontinuität ist das Resultat der gemeinsamen Arbeit mit Jean Zermatten, dem ehemaligen Präsidenten des Ausschusses für Kinderrechte. Ziel ist zum Erfolg des Jubiläumsfestes beizutragen und die Anhörung der Kinder zu verbessern.
Eine weitere Motivation besteht in der Weiterführung meines beruflichen Wandels. Dieser begann mit der Überzeugung, dass einzig Praxisarbeit mit den Kindern bereichernd sein kann, in meinem Fall als klinischer Psychologe und Rechtspsychologe. Mit der Zeit wurde mir jedoch klar, dass die Vermittlung durch Lehre und Verbreitung von Wissen genauso grundlegend wichtig sind. Und heute erkenne ich, dass die in allen Bereichen fortschreitende Erosion der Menschenrechte ebenfalls ein starkes Engagement notwendig macht. Kurz, mein Wunsch ist, mich in den Dienst der Sache zu stellen. Ich behaupte, einige Kompetenzen bieten zu können!
Obwohl die Schweiz in mancher Hinsicht privilegiert ist, bestehen in der Umsetzung der KRK noch Lücken, die geschlossen werden müssen. Welche Themen müssen Ihrer Meinung nach prioritär behandelt werden?
Die Umsetzung der Menschenrechte ist in allen Staaten lückenhaft. Die Schweiz schneidet dabei nicht schlecht ab, bildet aber auch keine Ausnahme. Denn der Reichtum der Schweiz lässt effektiv kaum Ausreden zu, was die Erfüllung der Anforderungen betrifft. Es ist zum Beispiel unerträglich, dass es unser Land trotz signifikanten Anstrengungen nicht schafft, die Kinderarmut zu verringern. Was die Frage der Diskriminierung betrifft, bin ich überzeugt, dass wir zu einer besseren Berücksichtigung der Bedürfnisse von Migrantenkindern oder auch von Kindern mit Behinderung imstande sind, sowie – auch dies muss erwähnt werden – zur Verbesserung der Chancengleichheit zwischen Mädchen und Jungen.
Was den Bereich Kindesschutz anbelangt, werden zu viele Kinder Opfer von Gewalt und schlechten Behandlungen aller Art. Weiter müssen wir im Zivilrecht ganz explizit die Anwendung von körperlicher Züchtigung verbieten. Und es sollte mit verstärkten Massnahmen auf eine bessere Ausbildung der Fachpersonen gepocht werden, dies in allen Phasen der sozialen und gerichtlichen Abläufe, d.h. vom Sozialarbeiter bis zum Richter, der im Rahmen der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde amtiert. Um mit grosser Behutsamkeit intervenieren zu können, sollten diese Akteure genauso effizient arbeiten wie Neurochirurgen, Spitzeningenieure oder Linienpiloten! Bei mehreren Kollegen macht sich eine Idee breit, wie ein institutioneller Wandel bewirkt werden könnte, und zwar durch die Schaffung einer speziell auf Kinder ausgerichtete gerichtliche Schutzbehörde.
Die Mitwirkungsrechte für Kinder sind in der Schweiz nicht besonders anerkannt. Dazu steckt in unserer eher paternalistischen Gesellschaft das Recht des Kindes auf Gehör und auf Berücksichtigung seiner Meinung noch in den Anfängen. Einige Gerichtsentscheide lassen zwar auf eine Besserung hoffen, und auf Gemeinde- und Kantonsebene sind Ansätze von «good practices» festzustellen. Im Allgemeinen wird aber der Entwicklungsfähigkeit von Kindern nicht genügend Rechnung getragen. Diesen kommt häufig eine Statistenrolle zu oder sie werden ohne reelle Mitsprachemöglichkeit angehört. Das kantonale Stimmrecht ab 16 Jahren stagniert beispielsweise, soweit ich mich erinnere, bildet der Kanton Glarus die einzige Ausnahme.
So sehr ich vom schweizerischen Föderalismus überzeugt bin, so stark glaube ich an unsere Fähigkeit, kreativ zu sein und auf nationaler Ebene koordinierte, wirksame Programme für alle Kinder umzusetzen. In der Schweiz verfügen Kinder zwar über ein qualitativ hochstehendes Gesundheitssystem, doch ist die Beachtung psychischer Probleme regional zu unterschiedlich. Die Realität der Suizide von jungen - und immer jüngeren - Menschen bewirkt nicht die anhaltende und dringende Aufmerksamkeit, die sie verdient. In einem anderen Zusammenhang zeigt sich, wie wenig die Menschenrechte im politischen Bewusstsein wahrgenommen werden: So sind wir noch nicht imstande – ebenso wenig wie die allermeisten europäischen Länder –, eine nationale Stelle für Menschenrechte zu schaffen, welche sich den Schutz und die Förderung der internationalen Verpflichtungen in diesem Bereich zur Aufgabe macht. Und von einer nationalen Ombudsstelle für Schweizer Kinder darf geträumt werden!
Andererseits soll aber nicht unnötig Schwarzmalerei betrieben werden, denn in mancher Hinsicht sind die Kinder in der Schweiz privilegiert. Die Gesellschaft und die diversen verantwortlichen Behörden kümmern sich im allgemeinen gut um das Wohl der Kinder (und manchmal auch um das Kindesinteresse und Kindeswohl im Sinne der Konvention). Ferner bleibt die Schweiz hinsichtlich der internationalen Kinderhilfe ein grosszügiges Land.
Markus Schefer, Professor für Staatsrecht an der Universität Basel, wurde im Juni dieses Jahres in den UN-Ausschuss für Behindertenrechte gewählt. Inwiefern könnte diese doppelte Schweizer Vertretung die Möglichkeit zu einer Annäherung zwischen den beiden Ausschüssen bieten?
Die quasi zeitgleiche Wahl der beiden Schweizer Vertreter in Menschenrechtsausschüsse ist ein grosser Erfolg für die schweizerische Diplomatie und zeigt ganz klar, wie hoch die anderen Staaten die Werte unseres Landes schätzen. Ich bin ebenfalls sehr stolz darauf, dass Markus Schefer und ich uns nun zu Patricia Schulz gesellen dürfen, die im UN-Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau Einsitz hat. Letzterer sowie der Ausschuss für Kinderrechte haben bereits gemeinsam «allgemeine Bemerkungen» zu schädlichen Praktiken formuliert. Dank der Reformen, die auf die Schaffung von Synergien abzielen, werden sich Möglichkeiten zur Nutzung unserer «Swissness» ergeben. Ich freue mich auf jeden Fall darauf, Markus Schefer zu treffen und ihn, falls möglich, in die Feier für das 30-jährige Jubiläum der Kinderrechtskonvention einzubeziehen. Seine Kompetenzen betreffen auch einen wesentlichen Bestandteil der Kinderrechte und bieten Anknüpfungspunkte für eine breite Mobilisierung. Vielleicht könnte INTEGRAS hier eine Mittlerrolle übernehmen…
Welches sind Ihre Anliegen im Bereich der Sozial- und Sonderpädagogik ?
Das ist ein weites Thema, aber meine Antwort fällt kurz und bündig aus. Meine Anliegen stimmen mit jenen des Fachverbandes Integras überein. Denn dieser setzt sich dafür ein, dass die Gesellschaft in die Sozialarbeit zum Wohle der Kinder investiert, die eine professionelle, qualitativ hochstehende Betreuung benötigen - sei es im Rahmen der Familie, der Schule oder der Institutionen.
» Prof. Philip Jaffé ist Leiter des Interfakultären Zentrums für Kinderrechte in Genf (Centre interfacultaire en droits de l'enfant CIDE). Er wurde am 29. Juni 2018 in New York als Mitglied des UN-Ausschusses für Kinderrechte gewählt.
Schriftliches Interview: Hervé Boechat.
Dieses Interview wurde aus dem Französischen übersetzt.