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Integras-Interview:
Medienpädagogik in der Kinder- und Jugendhilfe

Für Kinder und Jugendliche gehören digitale Medien wie Instagram, WhatsApp und YouTube mittlerweile zum Lebensalltag. Im Interview mit Monika Luginbühl und Olivier Steiner gehen wir mit Beispielen aus der Praxis den Fragen rund um die Medienpädagogik in der Kinder- und Jugendhilfe nach.

Sie leiten die Weiterbildung «Medienpädagogik in der Kinder- und Jugendhilfe», warum finden sie dieses Thema so wichtig für den stationären Bereich?

Olivier Steiner (OS): Digitale Medien sind für Kinder und Jugendliche heute unverzichtbarer Bestandteil der Alltags- und Beziehungsgestaltung. Unsere Studie Medienkompetenz in der Sozialen Arbeit (MEKiS) hat gezeigt, dass Heranwachsende, die in Einrichtungen der stationären Jugendhilfe leben, häufig Benachteiligungen im Bereich der Nutzung digitaler Medien erfahren. Gleichzeitig sind Fachpersonen in den Einrichtungen unsicher und es fehlt an Handlungswissen zu der Thematik. Medienpädagogische Aktivitäten bieten hier die Möglichkeit, die Chancen und Risiken digitaler Medien gemeinsam mit den Kindern und Jugendlichen zu erschliessen bzw. zu bearbeiten.

Monika Luginbühl (ML): Die Digitalisierung und der damit verbundene gesellschaftliche Wandel bieten gesellschaftliche Inklusions-Chancen, aber auch Exklusions-Risiken. Entscheidend für einen gelingenden Prozess, welcher übergeordnet zu mehr Partizipation und Chancengleichheit führt, ist die aktive Bearbeitung der Thematik in der Praxis. Indem ohnehin schon benachteiligte Kinder und Jugendliche optimal begleitet und gefördert werden, können Hürden überwunden und individuelle Prozesse angestossen werden.

Welche Probleme oder Fragen beschäftigen die Teilnehmer*innen, die diese Weiterbildung besuchen?  (spezifisch stationärer Bereich)

ML: Fragen rund um die Verantwortung der Berufsleute, auch in rechtlicher Hinsicht. Hier stellen sich zum Beispiel Fragen, inwieweit die Berufsleute haftbar sind, wenn Klient*innen illegale Inhalte nutzen oder verbreiten. Weiter beschäftigen viele Berufsleute Fragen nach sinnvollen Regeln und Settings. Auch die Teamebene mit heterogenen Haltungen, die fehlenden pädagogischen Strukturen oder Ressourcen sind Thema.

OS: Häufig werden auch Probleme und Herausforderungen im Umgang Kindern und Jugendlichen genannt, die intensiv Medien nutzen, beispielsweise mit Jugendlichen, die exzessiv Computerspiele spielen. Im Vordergrund stehen oftmals Fragen zu Regeln und Verboten. Auffallend ist, dass die Möglichkeiten der aktiven Gestaltung und Partizipation mit digitalen Medien wenig präsent sind, in der Weiterbildung dann aber oftmals ein Aha-Erlebnis erfolgt, welche Potenziale digitale Medien auch beinhalten können. 

Warum reicht es nicht aus, wenn Fachpersonen wissen, wie Facebook, Instagram und Co. funktionieren bzw., was genau ist denn Medienpädagogik?

ML: Medienpädagogik hat zum Ziel Medienkompetenzen zu fördern. Wer nicht über ausreichende Kompetenzen verfügt, ist in vielen Bereichen – beruflich wie privat – benachteiligt und potenziell gefährdet. Medienerziehung zielte früher ausschliesslich darauf ab, Wissen zu vermitteln oder Regeln zu setzen. Die seit den 1970er-Jahren entstandene Medienpädagogik stellt das handelnde Lernen ins Zentrum. Gerade heute ist es für Kinder und Jugendliche besonders wichtig, digitale Medien auch aktiv gestaltend nutzen zu können. Medienkompetenz umfasst so gesehen sehr viel mehr als nur Medien zu konsumieren.

OS: Zu wissen wie z. B. Soziale Medien und Games funktionieren, ist ein erster – notwendiger – Schritt für die Ausbildung einer umfassenden Medienkompetenz. Weiter sind aber soziale, kulturelle und kritische Dimensionen des Medienkompetenzerwerbs wichtig, um ein differenziertes Verständnis digitaler Medien zu gewinnen. Der zentrale Ansatz der Medienpädagogik liegt darin, dass wir Medien erst wirklich verstehen und sinnvoll einsetzen können, wenn wir diese aktiv und reflektiert nutzen. Medienpädagogische Aktivitäten sollen Medienkompetenzen also in der aktiven Aneignung von Medien – sowohl auf Seiten der Kinder und Jugendlichen wie auch der Fachpersonen fördern. In einem neueren Bildungsverständnis geht es auch darum, gegenseitig voneinander zu lernen und mit Medien Partizipation und Solidarität zu fördern.   

Warum sind Medien und Kompetenzen so wichtig für Kinder und Jugendliche im stationären Bereich?

OS: Gerade Kinder und Jugendliche im stationären Bereich sind vielfachen Formen der Benachteiligung und des sozialen Ausschlusses ausgesetzt. Werden Kinder und Jugendliche in stationären Einrichtungen auch in Bezug auf digitale Medien benachteiligt, schränkt dies ihre Chancen für die autonome Lebensgestaltung und soziale Integration ein. Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf Schutz, Förderung und Partizipation im digitalen Raum wie der General Comment Nr. 25 zu der UN-Kinderrechtskonvention festhält. Der Bericht hebt die Bedeutung des Zugangs zu funktionierender Technologie und qualitativ hochstehenden digitalen Inhalten für die Bildungsprozesse benachteiligter Heranwachsender hervor – damit ist es eine Aufgabe der stationären Einrichtungen, den Kindern und Jugendlichen eine förderliche digitale Umgebung zur Verfügung zu stellen und auf Seiten der Fachpersonen entsprechende Kompetenzen dazu aufzubauen.

ML: Medienkompetenzen sind für alle Kinder- und Jugendlichen wichtig, egal in welchem Setting sie leben. Aber Kinder- und Jugendliche, welche länger im stationären Rahmen leben, sind besonders darauf angewiesen, dass die Berufsleute ihre pädagogische Verantwortung der Förderung und der Ermöglichung von Lernprozessen und Erfahrungen auch in diesem Bereich einlösen. Dies gilt insbesondere auch für Kinder und Jugendliche mit einer Beeinträchtigung. Hier kommt zusätzlich auch die Behindertenrechtskonvention zum Tragen, welche explizit auf das Recht nach digitaler Partizipation für alle Menschen hinweist. Dass dabei immer wieder der richtige Rahmen zwischen Selbstverantwortung und Schutz ausgelotet werden muss, liegt auf der Hand. Das sind sich die Berufsleute aber auch in anderen Fragen im Alltag gewohnt, etwa wenn es darum geht, ob ein Kind eine Wegstrecke alleine oder begleitet zurücklegen soll.

Eine Frage, die unsere Mitglieder immer wieder beschäftigt, ist, wie sie mit der Situation umgehen sollen, wenn sie selbst ungefragt gefilmt und diese Inhalte hochgeladen werden?

ML: Genau in solchen Situationen wird die mangelnde Medienkompetenz sichtbar. Solche Verhaltensweisen sind strafbar, was vielen Jugendlichen gar nicht klar ist. Eine Reaktion ist unabdingbar, wie diese ausfällt hängt von den Inhalten ab. So oder so muss das Thema aufgegriffen werden.

OS: Hinter dem Medienthema werden in solchen Situationen ja immer auch grundlegende Fragen des Respekts, der Rücksichtnahme und des Einbezugs sichtbar. Neben rechtlichen Fragen gilt es somit, eine Kultur der Sensibilität für die persönliche Sphäre aller Beteiligten in den Einrichtungen zu schaffen. Die gemeinsame Diskussion zu Nutzungsformen digitaler Medien kann dazu ein guter Ausgangspunkt sein.

Vielen Dank für das Gespräch!

luginbuehl monika

Monika Luginbühl, Kompetenz Bildung Bern, BFF

portrait steiner olivier

Olivier Steiner, Hochschule für Soziale Arbeit FHNW

 

Fachseminar «Medienpädagogik in der Kinder- und Jugendhilfe»

Das Fachseminar vermittelt Wissen über Medienpädagogik, informiert über rechtliche Themen und bietet eine praxisnahe Einführung in Konzepte der Medienbildung. Teilnehmende werden darin begleitet, ein Projekt aktiver Medienarbeit in der eigenen Praxis umzusetzen oder ein medienpädagogisches Konzept auszuarbeiten. Start: Herbst 2023.

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