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 Abbrüche in der der stationären Jugendhilfe

Beitrag aus der EQUALS-Forschung.Von Nils Jenkel, Martin Schröder, Nina Kind

Abbrüche stationärer Massnahmen können die Belastungen der Kinder und Jugendlichen verschärfen. Daneben sind sie auch mit Ohnmachtsgefühlen bei den pädagogischen Mitarbeitenden und einem enormen Ressourcenaufwand für die jeweilige Institution verbunden. Dennoch ist das Thema in der Schweiz wenig untersucht. In einer Stichprobe mit rund 400 Austritten wurde nun eine Abbruchrate von 35.6% ermittelt. Die Daten zur Stichprobe stammen aus dem Projekt EQUALS

Einleitung

Abbrüche in der stationären Jugendhilfe können gravierende Folgen für die weitere Entwicklung der Kinder und Jugendlichen haben. Jede gescheiterte Massnahme minimiert die Erfolgsaussichten der darauffolgenden und aggraviert die Bindungsproblematik der betroffenen Kindern und Jugendlichen (Mascenaere & Knapp 2004). In der Folge leiden Menschen mit vielen Beziehungsabbrüchen häufiger unter einer geringen Lebensqualität und benötigen wegen psychischen und somatischen Problemen öfter professionelle Hilfe als andere (Aarons et al. 2010, Rubin et al. 2004).

Auf der anderen Seite ist vermutlich jeder Abbruch auch für die pädagogischen Mitarbeitenden ein belastendes Ereignis. Auch für sie bedeutet er das abrupte Ende einer Beziehung, in welcher sie sich persönlich engagiert haben. Darüber hinaus endet ein konkretes Hilfesetting, in welches einst eine gewisse Hoffnung gelegt worden war und eine Menge an Kraft investiert wurde. Gefühle von Misserfolg oder Ohnmacht dürften nachvollziehbar und nicht selten sein. Hinzu kommt, dass in den Institutionen insgesamt ein besonderer Aufwand geleistet werden muss, um aus der oftmals turbulenten Situation eines Abbruchs „das Beste“ für die jungen Menschen und deren Familien heraus zu holen und „noch Schlimmeres“ zu verhindern. Notfallkoffer werden gepackt, weitere Unterstützungen schnell und kreativ organisiert. In einigen Fällen gilt es, trotz aller Anstrengungen sehr ungewisse Ausgänge irgendwie auszuhalten, wenn sich beispielsweise die Jugendlichen und ihre Familien einer weiteren Unterstützung entziehen oder vielleicht auch deren Finanzierung nicht möglich erscheint.

Es sollte also im Interesse aller Beteiligten liegen, das Thema der Abbrüche genauer unter die Lupe zu nehmen und in grösseren Stichproben zu untersuchen, wie häufig sie sind und ob sich Ansatzpunkte finden lassen, wie sie möglichst verhindert werden können.

Im internationalen Vergleich

In internationalen Studien werden Abbruchraten in der stationären Jugendhilfe zwischen 20% und 60% beziffert. Aus Deutschland berichtet eine Studie, die ausschliesslich auf das Thema fokussiert, eine Abbruchrate von 48% (Tornow et al. 2012). Gemäss der Jugendhilfestatistik in Deutschland liegt die Zahl irgendwo zwischen 40% und 45%, jede fünfte stationäre Massnahme endet im ersten Jahr ungeplant (statistisches Bundesamt 2009). Oft bleibt es jedoch relativ schwierig, die Zahlen direkt zueinander in einen Bezug zu setzen, da Abbrüche teils unterschiedlich definiert wurden.

Aus der Schweiz liegt bisher eine Analyse der Stichprobe des „Modellversuchs zur Abklärung und Zielerreichung in stationären Massnahmen“ vor. Gemäss dieser wurden 16% der Massnahmen während des Beobachtungszeitraums von einem Jahr abgebrochen (Schmid et al. 2014). Weitere repräsentative Zahlen für die Schweiz sind noch unbekannt.

Methode der Auswertung

Die Daten für folgende Auswertungen stammen aus insgesamt 14 Institutionen aus der Schweiz, die seit 2012 im EQUALS-Tool ihre Austritte registriert haben. EQUALS ist ein Zusammenschluss von engagierten sozialpädagogischen Institutionen, die gemeinsam ein Tool zur (Verlaufs-)Dokumentation und institutionsinternen Qualitätssicherung nutzen und die dabei gewonnen Daten auch wissenschaftlichen Auswertungen zur Verfügung stellen.

Insgesamt enthält die Stichprobe 124 männliche und 258 weibliche Kinder und Jugendliche im Alter von 8 bis 20 Jahren. Die Institutionen wurden drei Gruppen von Institutionstypen zugeordnet: Kinderheime (4 Institutionen), Jugendheime (8 Institutionen) und Durchgangs-/Beobachtungsstationen (DS/BEO, 2 Institutionen). In der Gruppe DS/BEO befinden sich nur junge Frauen.

Die Informationen zu den Austritten werden von den sozialpädagogischen Bezugspersonen erfasst. Dabei wird es bewusst diesen überlassen, welche Austritte sie als Abbruch empfinden und nicht als „reguläre Beendigung der Massnahme“ einstufen würden. Dieser folgt eine weitere subjektive Einschätzung über die Prognose des weiteren Verlaufs. Ergänzend werden weitere Daten zum Austritt erhoben (Zeitpunkt, Gründe für Abbruch, anschliessender Lebensort).

Ergebnisse

Über alle Einrichtungen hinweg endet jede dritte Massnahme in einem Abbruch. In drei von vier Fällen stellen die sozialpädagogischen Bezugspersonen nach einem Abbruch eine schlechte Prognose (vs. 70% gute Prognosen bei den regulären Austritten).

Die Abbruchraten unterscheiden sich dabei zwischen den Institutionstypen: In den Kinderheimen sind es etwas über 30%, in den Jugendheimen 45%, in den DS/BEO wenig mehr als 25%. Zwischen den Geschlechtern gibt es keine Unterschiede in den Abbruchraten.

In den Kinderheimen lag die durchschnittliche Aufenthaltsdauer bei etwas mehr als zwei Jahren. Dabei gibt es keinen Unterschied, ob es letztlich zu einem regulären Ende oder zu einem Abbruch gekommen ist. In den Jugendheimen erfolgten die Abbrüche hingegen schon nach 6 Monaten, während die regulär ausgetretenen Jugendlichen mit durchschnittlich 11 Monate signifikant länger in den Institutionen geblieben waren. In den DS/BEO war die durchschnittliche Aufenthaltsdauer mit 2 Monaten rund ein Monat kürzer als bei einer regulären Beendigung.

Regelverstösse und mangelnde Kooperation der Familien

Als häufigste Gründe für die Abbrüche wurden Regelverstösse angegeben, gefolgt von einer permanenten Abwesenheit der KlientInnen. Bei jedem zehnten Abbruch wurde ein nicht mehr zu kontrollierender Suchtmittelkonsum als Grund benannt. In der Gruppe der Kinderheime allerdings wurde an erster Stelle und bei jedem dritten Abbruch eine fehlende Kooperation der Familie angegeben. Bei den Jugendlichen fiel auch fremdgefährdendes Verhalten unter die meistgenannten Gründe.

Bei mehr als der Hälfte erfolgte nach Abbruch eine Rückführung in die Familie. Bei etwa 15% fand ein Wechsel in ein weiterführendes sozialpädagogisches Setting statt. Genauso viele waren anschliessend in der Kinder- und Jugendpsychiatrie aufgenommen worden. Im Vergleich der Institutionstypen bleibt die „Option Familie“ in allen Gruppen an der ersten Stelle. Die Psychiatrie hingegen wird nur bei den Jugendlichen und bei den jungen Frauen aus der Durchgangs- und Beobachtungsstation als besonders häufige Anschlusslösung benannt. Zudem liegen in diesen beiden Gruppen Institutionen des Straffvollzugs auf dem dritten Platz. Die Zusammenfassung der Ergebnisse können Sie sich auch hier ansehen.

Limitationen

Aufgrund der begrenzten Stichprobe haben die Ergebnisse keinen vollen Anspruch auf Repräsentativität. Daneben könnten sie aufgrund der subjektiven Bewertung eines Abbruchs verzerrt sein, wenngleich gemeinhin ein Konsens darüber besteht, dass Abbrüche ungeplant sind und meist mit einer Uneinigkeit im Helfer- und Herkunftssystem einhergehen. Zudem erfolgen die Meldungen der Austritte nicht automatisch, so dass Selektionseffekte die zu einer Überschätzung der Abbrüche führen, nicht gänzlich auszuschliessen sind: eventuell werden Abbrüche eher in EQUALS dokumentiert als reguläre Beendigungen. Andererseits spricht die Tatsache dass die Ergebnisse eher unter denen von anderen Studien liegen, eher für eine hohe Repräsentativität der Stichprobe.

Diskussion & Ausblick

Über alle Einrichtungen hinweg zeigt sich, dass die regulären Austritte gegenüber den Abbrüchen im Verhältnis zwar überwiegen, aber eben leider auch gesagt werden muss, dass jede dritte Heimunterbringung in einem Abbruch endet. Im Vergleich von verschiedenen Institutionstypen ist die Abbruchrate in den Jugendheimen besonders hoch. Die wesentlich geringere Abbruchquote in den Beobachtungs- und Durchgangsstationen ist, neben der zeitlichen Begrenzung der Aufenthalts und der höheren Präsenz der Behörden im Platzierungsprozess, vermutlich auch auf den etwas höheren Personalschlüssel und ihre interdisziplinären Konzepte zurückzuführen.

Die Zahlen liegen zwar unter der aus Deutschland berichteten Abbruchrate und bewegen sich im internationalen Vergleich im unteren Mittelfeld, in Anbetracht der gravierenden Folgen von Abbrüchen dürfte es „ein einfach weiter so“ eigentlich nicht geben.

Man könnte einwenden, dass natürlich nicht jedes ungeplante Ende per se negativ sein muss. Dass nur bei jedem vierten Abbruch eine positive Prognose gewagt wird, spricht jedoch nicht dafür. Insgesamt erscheint die Relation an Abbrüchen problematisch, insbesondere auch, wenn in so vielen Fällen die Psychiatrie oder die Institutionen des Straffvollzugs der Heimunterbringung als nächste Aufenthaltsorte folgen.

In einem nächsten Schritt wäre es wichtig zu wissen, welche Faktoren zu den Abbrüchen führen und welche einen regulären Verlauf positiv beeinflussen. Auch hier finden sich noch wenige bekannte Studien, die einen systematischeren Einblick geben. Auf Grundlage von EQUALS ist es möglich, die Informationen zu den Austritten mit weiteren Daten zu den Kindern und Jugendlichen in Beziehung zu setzen. Diese Ergebnisse werden in dieser Rubrik in den nächsten Newslettern berichtet.

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Factsheet EQUALS zum Thema Abbrüche