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«Allgemeinen Bemerkungen» des UNO-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderung zum Recht auf inklusive Bildung (Art. 24 BRK).

Der UNO-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, der über die Umsetzung der UNO-Behindertenrechtskonvention (UNO-BRK) wacht, hat Ende August 2016 neue allgemeine Bemerkungen (General Comment Nr. 4) zu Art. 24 der UNO-BRK (Recht auf Bildung) erlassen. Die «General Comments» zu einzelnen Artikeln von Menschenrechtskonventionen dienen den Staaten als Orientierungshilfe für die praktische Umsetzung und dem zuständigen UNO-Ausschuss als Massstab zur Bewertung der Umsetzung in den Staaten.

Wir haben den General Comment Nr. 4 für Sie zusammengefasst. Am Ende der Zusammenfassung finden Sie eine kurze Position von Integras.

Zusammenfassung

In der Einleitung zu den Allgemeinen Bemerkungen zu Art. 24 hält der Ausschuss fest: Wurden Menschen mit Behinderung früher als Wohlfahrtsempfänger gesehen, so sind sie heute international als Rechteinhaber anerkannt. In den letzten dreissig Jahren wurde die Inklusion als Schlüssel zur Erreichung des Rechts auf Bildung anerkannt und sie ist in der Behindertenrechtskonvention (BRK) verankert.

Gründe für das Fernbleiben inklusiver Bildung

Zudem stehen wir vor Herausforderungen, da immer noch Millionen von Menschen mit Behinderung kein Recht auf Bildung haben oder der Zugang nur zu separativen Settings oder solchen von minderer Qualität besteht.

Gründe für das Fernbleiben inklusiver Bildung sind unter anderem

a) Fehlendes Wissen darüber, was inklusive Bildung ist und welche Vorteile inklusive und qualitativ hochstehende Bildung und Diversität mit sich bringen.

b) Der Mangel an Daten und Forschung zur Entwicklung einer effektiven Politik und Interventionen inklusiver und qualitativ hochstehender Bildung.

c) Der Mangel an politischem Willen, Methoden-Know-How und Umsetzungskapazitäten sowie das Fehlen adäquater Ausbildung(en) für die Lehrpersonen.

Es wird betont, dass sich dieser General Comment Nr. 4 auf alle Personen mit Behinderung bezieht, dass jedoch einige Gruppen eher drohen ausgeschlossen zu werden wie z.B. Menschen mit geistiger Behinderung, Mehrfachbehinderungen, taubblinde Menschen, Menschen im autistischen Spektrum oder Menschen mit Behinderung, die sich in humanitären Krisen befinden.

Zum normativen Inhalt des Artikels 24 hält der Ausschuss vor allem fest, dass das Recht auf inklusive Bildung eine Veränderung der Kultur, Politik und Praxis in allen formalen und informellen Bildungsebenen umfasst bzw. verlangt. Nur so können die unterschiedlichen Voraussetzungen und Identitäten einzelner Studenten und/oder Schüler erfasst werden. Vertragsstaaten haben die Verpflichtung, Barrieren, die dies verhindern, abzubauen. Inklusion verlangt eine tiefgreifende Veränderung von Bildungssystemen in Gesetzgebung, Politik, Finanzierungsmechanismen, Organisation, Design und Monitoring.

Inklusive Bildung ist als ein grundsätzliches Menschenrecht für alle zu verstehen und insbesondere ein individuelles Recht und nicht jenes der Eltern oder Betreuer. Elterliche Pflichten sind in diesem Sinne dem Recht des Kindes untergeordnet.

Exklusion, Segregation, Integration und Inklusion

Des Weiteren unterstreicht der Ausschuss die Wichtigkeit, zwischen Exklusion, Segregation, Integration und Inklusion zu unterscheiden. Exklusion bedeutet, dass Schüler direkt oder indirekt am Zugang zu Bildung gehindert werden oder ihnen das Recht auf Bildung aberkannt wird. Segregation beschreibt den Umstand, dass Bildung für Menschen mit Behinderung in separaten, auf ihre Behinderung ausgelegten Settings stattfindet und zwar isoliert von Schülern ohne Behinderung. Integration ist ein Prozess, Menschen mit Behinderung in bestehenden Regel-Institutionen gemeinsam mit Menschen ohne Behinderung zu platzieren – dabei müssen sich die Menschen mit Behinderung diesem Setting anpassen können. Inklusion beinhaltet einen systematischen Transformationsprozess, welcher Veränderungen und Anpassungen in den Inhalten, Lehrmethoden, Ansätzen, Strukturen und Strategien in der Bildung verkörpert.

Kernelemente inklusiver Bildung

Als Kernelemente inklusiver Bildung nennt der Ausschuss unter anderem:

  • Die Herangehensweise ans gesamte System
  • Den Anspruch, die gesamte Lernumgebung einzubeziehen
  • Eine umfassende personenzentrierte Herangehensweise
  • Unterstütztes Lehrpersonal
  • Der Respekt für und die Wertschätzung von Diversität
  • Eine lernfreundliche Umgebung
  • Gelingende Übergänge
  • Die Anerkennung von Partnerschaften und Monitoring

Im Einklang mit der UNESCO Konvention gegen Diskriminierung in Bildung § 1 muss das Recht auf Bildung ohne Diskriminierung und auf der Basis von Chancengleichheit sichergestellt werden. Das Recht auf Nicht-Diskriminierung umschliesst ebenso das Recht, nicht segregiert zu werden und damit einhergehend Zugang zu und angemessene Hilfestellungen in Lernumgebungen zu haben. Das Ziel der Bildung muss uneingeschränkt in den Dienst menschlicher Potenziale, Würde und Selbstwert gestellt werden.

Das Recht auf Nicht-Diskriminierung als Grundlage für Inklusion

Das Bildungssystem hat folgende vier Eigenschaften zu umfassen:

1. Verfügbarkeit
Öffentliche und private Bildungsinstitutionen müssen in genügender Anzahl und Qualität vorhanden sein.

2. Zugänglichkeit
Die Bildungsinstitutionen und Ausbildungen müssen für alle ohne Diskriminierung zugänglich und erschwinglich sein. Das beinhaltet Gebäude, Information und Kommunikation, unterstützende Systeme, Curricula, Lehrmaterialien, Lehrmethoden, Bewertung und sprachliche Unterstützungsmethoden. Zugänglichkeit wird als dynamischer Prozess gesehen. Obligatorische, qualitativ hochwertige, freie und zugängliche Grundschulbildung ist eine unmittelbare Verpflichtung der Vertragsstaaten. Öffentliche und private Schulen müssen ebenso für Menschen mit Behinderung zugänglich sein.

3. Annehmbarkeit
Die Form und der Inhalt der Bildung muss für alle annehmbar sein. Die Staaten haben dafür Sorge zu tragen und Massnahmen zu ergreifen, dass Bildung für alle in hochstehender Qualität zur Verfügung steht.

4. Anpassungsfähigkeit
Der Ausschuss ermutigt die Vertragsstaaten, den Ansatz des Universal Design for Learning (UDL) anzuwenden. UDL beinhaltet eine Reihe von Grundsätzen, die Lehrern und anderen Mitarbeitern eine Struktur bieten, um anpassungsfähige Lernumgebungen zu schaffen und Unterricht zu entwickeln, welcher die vielfältigen Bedürfnisse aller Lernenden erfüllt.

Weiter unterstreicht der Ausschuss, dass Menschen mit Behinderung die Möglichkeit haben sollten, in ihren Gemeinden zur Primar- und Sekundarschule zu gehen. Schüler sollten nicht von zu Hause weggeschickt werden. Aktive Partizipation mit anderen Schülern, inkl. Geschwister von Menschen mit Behinderungen ist eine wichtige Komponente des Rechts auf inklusive Bildung.
Mangelnde Ressourcen und finanzielle Krisen dafür geltend zu machen, dass inklusive Bildung nicht vorangetrieben werden kann, verstösst gegen Art. 24 der Konvention.

Der Ausschuss hebt hervor, dass individuelle Lehrpläne bereitzustellen sind, ebenso wie spezifische Lernmaterialien in alternativen oder zugänglichen Formaten und angepasste Kommunikationswege. Alle zur Verfügung gestellten unterstützenden Massnahmen müssen auf das Ziel der Inklusion abgestimmt sein. Dabei gilt es vor allem Massnamen für Blinde, Sehbehinderte, Taube, Schwerhörige, Taubblinde, Menschen mit Lernschwierigkeiten, Menschen mit sozialen Schwierigkeiten und Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen zu entwickeln.

Verpflichtungen der Vertragsstaaten

Die Vertragsstaaten haben die wesentlichen Eigenschaften inklusiver Bildung, nämlich Verfügbarkeit, Zugänglichkeit, Annehmbarkeit und Anpassungsfähigkeit zu respektieren, schützen und zu erfüllen.  Zu erfüllen heisst, Massnahmen zu ergreifen, damit Menschen mit Behinderung ihr Recht auf inklusive Bildung gemäss Art. 24 der Konvention wahrnehmen können. Und dies ist nicht vereinbar mit einem Beibehalten von zwei Bildungssystemen: Regelbildungssystem und segregiertes/ spezialisiertes Bildungssystem.

  • Nachfolgende Kernrechte sollten von allen Vertragsstaaten unmittelbar umgesetzt werden:
  • Nicht-Diskriminierung in jeglicher Hinsicht in allen Bildungssystemen. Es sind dringende Schritte zum Abbau aller rechtlichen, administrativen oder anderer Formen von Diskriminierung zu unternehmen, welche das Recht auf inklusive Bildung behindern.
  • Angemessene Hilfestellungen (Unterstützungsmöglichkeiten) für alle Menschen mit Behinderungen, damit inklusive Bildung gewährleistet bleibt.
  • Obligatorische, qualitativ hochwertige, freie und zugängliche Grundschulbildung von mindestens 12 Jahren.

Die Vertragsstaaten sind verpflichtet, nationale Umsetzungsstrategien inklusiver Bildung zu entwickeln auf der Basis von Inklusion und Chancengleichheit.

Beziehungen zu anderen Bestimmungen des Übereinkommens

Die Vertragsstaaten müssen die Unteilbarkeit und gegenseitigen Wechselwirkungen aller Menschenrechte anerkennen. Bildung ist ein integraler Bestandteil der effektiven Verwirklichung anderer Rechte. Zugänglichkeit ist eine Voraussetzung für die volle und gleichwertige Partizipation aller Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft. Insbesondere weist der Ausschuss nochmals mit Nachdruck auf die Kinderrechtskonvention hin. Vertragsstaaten müssen jegliche Form körperlicher Strafen, grausame, unmenschliche und abwertende Handlungen in allen Lernumgebungen, inkl. Schule, verbieten und wirksame Strafen gegen Täter sicherstellen.
Inklusive Bildung verlangt die Anerkennung des Rechts von Menschen mit Behinderungen in ihrer gewohnen Umgebung zu leben und Inklusion und Partizipation wahrnehmen zu können. Fremdplatzierten Kindern muss das Recht auf inklusive Bildung gewährleistet werden und das Recht, gegen Staats- oder Behördenentscheide zu klagen, welche ihnen dieses Recht verwehren.

Umsetzung in den Staaten

Der Ausschuss hat zahlreiche Herausforderungen bei der Umsetzung des Art. 24 der Konvention feststellen können. Die Verantwortung für Bildung für Menschen mit Behinderungen muss innerhalb des Ministeriums für Bildung angesiedelt werden und dafür haben die Vertragsstaaten geeignete Massnahmen zu treffen. Ebenso haben die Vertragsstaaten dafür zu sorgen, dass andere Ministerien der Regierung sich ebenfalls zu inklusiver Bildung bekennen und diese mittragen. Eine umfassende Strategie und ein Umsetzungsplan mit Zeitschiene für ein inklusives Bildungssystem mit nachfolgenden Schlüsselelementen (Auswahl) sind einzuführen:

  • Einhaltung internationaler Standards zu Menschenrechten
  • Eine klare Definition von Inklusion und ihrer Ziele auf allen Bildungsebenen
  • Ein materielles Recht auf inklusive Bildung als Schlüsselelement des Rechtsrahmens
  • Anforderung, dass alle neu zu bauenden Schulen dem Prinzip des UDL folgen
  • Einführung umfassender Qualitätsstandards für inklusive Bildung und ein Monitoring
  • Ein Prozess zur Ausbildung aller Lehrpersonen auf allen Ebenen eines inklusiven Bildungssystems
  • Alle Rechte, welche mit inklusiver Bildung in Verbindung stehen, sollten Inklusion klar als konkretes Ziel definieren.
  • Die Garantie für alle Menschen mit Behinderung, dass sie angehört werden und ihre Meinung zum inklusiven Bildungssystem einfliessen lassen können.
  • Inklusion ist nicht vereinbar mit Institutionalisierung. Vertragsstaaten haben einen umsichtigen Plan und strukturierten Prozess zum Abbau von Institutionen für Menschen mit Behinderung zu ergreifen.
  • Massnahmen zur Früherkennung von Behinderungen sollen dazu dienen, dass frühe Unterstützungsmöglichkeiten zur Verfügung gestellt werden.
  • Vertragsstaaten müssen ihre Regierungssysteme und Finanzierungsmechanismen so gestalten, dass Menschen mit Behinderung ihr Recht auf inklusive Bildung wahrnehmen können.

Der Ausschuss drängt Vertragsstaaten dazu, dass Ressourcen von segregierten hin zu inklusiven Lernumgebungen transferiert werden.

Der Ausschuss stellt in vielen Ländern eine Zunahme privater Bildungssysteme fest. Vertragsstaaten haben hier sicher zu stellen, dass diese ebenso auf ein inklusives Bildungssystem ausgerichtet und Menschen mit Behinderung zugänglich sind.

» Zum Originaldokument (auf Englisch): http://www.ohchr.org/Documents/HRBodies/CRPD/GC/RighttoEducation/CRPD-C-GC-4.doc

» Position von Integras: Integras versteht Inklusion als möglichst umfassende Teilhabe eines jeden Menschen in der Gesellschaft. Wie umfassend Teilhabe in den unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft, wie zum Beispiel Schule, Ausbildung, Arbeit, Freizeit, Sport, Politik, Kultur, erlebt wird, ist je nach Person individuell. Um eine möglichst umfassende Teilhabe zu ermöglichen, benötigt es unterschiedliche und flexible Angebote, für welche sich Menschen mit Unterstützungsbedarf entscheiden können. Dazu gehören ambulante, teilambulante oder geschützte, darunter auch «separative», Settings, die flexibel zugänglich sind, je nachdem ob sie von einer Person mal mehr oder mal weniger benötigt werden (vgl. auch Position Integras). Die Bildungssysteme und deren Durchlässigkeit sind von einer inklusiven Haltung her zu denken und zu realisieren.